„Von Hanau bis Moria“: Antirassistische Bewegungen im Kampf gegen strukturellen Rassismus

Analyse

Wer über die Verteidigung der offenen Gesellschaft spricht, muss auch über strukturellen Rassismus sprechen – von Hanau bis Moria. Die Soziologin Ceren Türkmen beschreibt die politische Dimension von Gedenken und Erinnern und analysiert die neue Konjunktur antirassistischer Bewegungen seit dem Terroranschlag in Hanau.

Gedenkdemonstration zum ersten Jahrestag von Hanau in Berlin: Zu sehen ist ein großes Transparent mit der Aufschrift "Wir müssen gegen das Vergessen kämpfen"
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Gedenkdemonstration zum ersten Jahrestag von Hanau in Berlin am 20. Februar 2021.

Am 19. Februar 2022 fanden in über 100 Städten Gedenkveranstaltungen, Demonstrationen und Kundgebungen statt, um am 2. Jahrestag des rassistischen und rechtsterroristischen Anschlags in Hanau an die Opfer zu erinnern, ihre Namen zu nennen, an der Seite der Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen zu stehen, das Versprechen von vor zwei Jahren nach Zäsur, Gedenken und Solidarität zu erneuern: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov werden nicht vergessen.

Die Initiative 19. Februar, die Angehörigen der Opfer und die Betroffenen des terroristischen Anschlags zeigen mit der diesjährigen Gedenkveranstaltung und schon seit vollen zwei Jahren die gesellschaftspolitische Bedeutung ihres selbstorganisierten Gedenkens. Dieses Gedenken stellt die Betroffenen in den Vordergrund, instrumentalisiert sie nicht als Statist:innen, sondern gibt ihnen Raum für ihre Verluste, ihre Trauer, ihre politischen Forderungen und die weiterhin dringliche Arbeit nach umfassender Aufklärung und politischen Konsequenzen, denn „Erinnern heißt Verändern“ (vgl. Duman/Arslan 2021). Das ist das Hanauer Versprechen. Die diesjährigen Gedenkveranstaltungen zeigen auch, dass das Gedenken Teil der politischen Auseinandersetzungen ist, und sie deshalb auch immer wieder neu ausgehandelt, geformt und auch verteidigt werden. Nach der Gedenkveranstaltung am Hanauer Hauptfriedhof am 19. Februar 2022, an der auch Bundespolitiker:innen teilnahmen, kritisierten die Angehörigen etwa öffentlich das Land Hessen, die Gedenkveranstaltung vereinnahmt zu haben, da die Angehörigen nicht selbst über die Teilnehmer:innen entscheiden konnten. Am Abend veranstaltete die Initiative mit den Angehörigen eine eigene Gedenkveranstaltung, auf der sie würdevoll trauern und ihrer Angehörigen gedenken konnten.

„Say their Names“ und die politische Dimension von Trauer und Gedenken

Rassismus hingegen enteignet Menschen nicht nur ihres Rechts auf ein würdevolles Leben, sondern auch der Betrauerbarkeit des Todes und Sterbens. Vor über 100 Jahren analysiert der Bürgerrechtskämpfer, antikoloniale Aktivist und Soziologe W.E.B. du Bois die politische Dimension des Trauerns für die Schwarze Bevölkerung in den USA nach der Sklaverei um 1903 inmitten der Rassentrennung. In dem für die US-Bürgerrechtsbewegung zentralen Monumentalwerk The Soul of Black Folk (1903) beschreibt er am Beispiel der Beerdigung seines jüngsten Sohns, wie Rassismus als Ideologie der Ungleichwertigkeit nicht nur vermeintlich ›lebenswertes‹ von ›lebensunwertem Leben‹ unterscheidet, sondern auch den Tod von Rassismus-Betroffenen seiner würdevollen Betrauerbarkeit enteignet. »Not dead, not dead, but escaped, not bond but free«, schreibt Du Bois (Du Bois 1903:11)1. Du Bois‘ Auseinandersetzung mit der Frage der Betrauerbarkeit und Nicht-Betrauerbarkeit des Todes von Rassismusbetroffenen in einer rassistischen Gesellschaft ist mit der aktuellen Frage, warum ein sicheres Leben für Migrant:innen in einer rassistischen Gesellschaft nicht möglich ist und warum selbst ein würdevolles Trauern für viele Angehörige Betroffener rassistischer Gewalt erst erkämpft werden muss, zentral (vgl. Kocatürk-Schuster/Türkmen 2021)2. Die Kriminalisierung von Migrant:innen beginnt in der fehlenden Aufklärung in den Sicherheitsbehörden. Es folgt das institutionell hergestellte Vergessen der Opfer, denn dort, wo nicht über rechte, rassistische und antisemitische Ideologien, Netzwerke, Motive und Strukturen gesprochen wird, dort kann auch nicht der Opfer der Gewalt gedacht werden.

Gedenkkundgebung zum 2. Jahrestag von Hanau: Zu sehen sind Kerzen und Blumen, die an einer Stele niedergelegt wurden, an der die Bilder und Namen der Opfer des Anschlags zu sehen sind.
Gedenkkundgebung zum zweiten Jahrestag des Terroranschlags von Hanau auf dem Oranienplatz in Berlin.

Die Initiative 19. Februar und viele weitere selbstorganisierte Initiativen, insbesondere das Tribunal NSU-Komplex Auflösen, haben vom Vergessen bedrohte Namen, Gesichter, persönliche Geschichten und Biografien insbesondere der Betroffenen der NSU-Mordserie neben dem Strafprozess am Oberlandesgericht in München immer wieder in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft und in die gesellschaftliche Aufklärungsarbeit zurückgeholt. Es ist und bleibt ihr Verdienst, „say their names“ einzufordern, denn sowohl das kollektive Gedächtnis als auch die Erinnerungskultur in diesem Land sind Teil staatlicher Institutionen, in denen immer auch Rassismus verhandelt, reproduziert und vergessen wird. Diese bisher „nationale und postkoloniale Selbstidentifikation“ steht seit dem Terroranschlag in Hanau unter massivem Druck, die dringliche Frage zu klären, an wen bisher mit welchen Geschichten und Narrativen erinnert wurde, und warum es keine Erinnerungen an die Konjunkturen und Kontinuitäten des Rassismus und der rechten Gewalt gibt und die Stimmen der Betroffenen lautlos gedreht sind. Die Amnesie in der Gedenkkultur steht nicht für sich allein, sondern sie hängt mit der Verschleppung, der Ignoranz und den milden Urteilen in Justiz, Politik und Sicherheitsbehörden zusammen. Dazu bedarf es nun endlich Antworten – und zwar von ganz oben! Anschaulich wird die Bedeutung des Gedenkens für den Heilungsprozess von traumatisierten Betroffenen auch am Beispiel von Đô Mùi. Sie ist die Mutter von Đỗ Anh Lân, der zusammen mit Nguyễn Ngọc Châu 1980 bei einem Brandanschlag von Neonazis auf ein Geflüchtetenwohnheim in Hamburg getötet wurde. Der Mord an den jungen Männern ist der erste offiziell dokumentierte rassistische Mord an Migrant:innen nach dem Ende des Faschismus in der Bundesrepublik und er fand bis zur Gründung der Initiative 2014 auf der ersten öffentlichen Gedenkfeier keinen Eingang ins öffentliche Gedächtnis. Doch die Mutter konnte ihre Trauer bis heute nicht abschließen. Đô Mùi betrauert seit 1980 nicht nur den Mord an ihrem Sohn und seinem Freund, sondern sie klagt auch an, dass ihr Wunsch nach einem öffentlichen Gedenkort nicht gehört wurde, sie aber einen Ort zum Trauern für ihren Sohn brauchte (vgl. Vu 2018).

Wenn Bundeskanzler Scholz am Gedenktag die Namen der Opfer nennt, ist das der Arbeit der Betroffenen und der Initiative 19. Februar zuzurechnen. Scholz‘ Zitation der Namen der Betroffenen bleibt aber in jede Richtung hilflos, wenn nicht deutlich wird, dass Hanau wie ein Spiegel für jede rassistische, antisemitische und rechte Gewalttat und jede rassistische Ungerechtigkeit und Diskriminierung steht. Der Bundeskanzler steht somit weiterhin in der Pflicht, politische Konsequenzen einzuläuten, denn „Erinnern, heißt Verändern!“

„Ihr seid keine Sicherheit“ – rechte Netzwerke und institutioneller Rassismus in den Sicherheitsbehörden

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zum rassistischen Terroranschlag in Hanau hat bisher vor allem die Fragen nicht beantwortet, wieso die Taten nicht verhindert wurden und welche politischen Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. Hierzu muss in den weiteren Sitzungen die Polizei und Justiz befragt werden. Serpil Temiz-Unvar, Mutter von Ferhat Unvar und Gründungsmitglied der Bildungsinitiative „Ferhat Unvar“ sagte dazu in einem offenen Brief an die Bundesregierung: „Es wird keine bessere Zukunft geben, wenn das Vergangene nicht aufgeklärt wird, wenn es keine Gerechtigkeit gibt, für die, die angegriffen und ermordet wurden.“ Die Bedeutung des Untersuchungsausschusses in Hessen liegt somit unübersehbar auf der Hand. Ein Weggucken ist kaum mehr möglich. Für die politischen Konsequenzen hätte die Politik schon lange aktiv werden müssen. Sie muss sich nun spätestens mit dem Untersuchungsausschuss für eine Stoßrichtung entscheiden. Es gibt keine Mitte zwischen der Bekämpfung rechter Netzwerke und der Gefahrenlage für rassismusbetroffene Menschen. Es muss aufgeklärt werden, warum die Polizei und die Sicherheitsbehörden nicht für die Sicherheit der Hanauer:innen und Walter Lübcke sorgen konnten, wie das Netzwerk der rechtsextremen Chatgruppen in der Hessischen Polizei aufgebaut ist, wie es sich konstituieren und Seda Başay-Yıldız und weitere Menschen systematisch ausfindig machen und bedrohen konnte. Vor allem lautet auch hier die Frage, welche Strukturen innerhalb der Sicherheitsbehörden unterstützend aktiv waren und bis heute nicht aufgeklärt sind.

Spätestens nach der Aufdeckung des massiven Sicherheitsversagens im Falle des NSU in den Sicherheitsbehörden – dazu gehören auch die Verfassungsschutzämter – hätten politische Konsequenzen gezogen werden müssen. Die Enttarnung, Entwaffnung und Aufdeckung rechter Netzwerke in Hessen hätten folgerichtig geschehen müssen, was aber nicht passiert ist. Wir müssen heute auch davon ausgehen, dass eine Untersuchung der weggesperrten NSU-Akten dabei geholfen hätte. Es liegt nach dem NSU und für die Hanauer:innen deshalb auf der Hand, dass sich die Politik, Justiz und Polizei nicht nur mit rechten Strukturen innerhalb der Behörden, sondern auch weitergehend mit institutionellem Rassismus in den Behörden auseinandersetzen müssen. „Selbstschutz - jetzt.“ Das haben die antirassistischen und antifaschistischen Kämpfe von Migrant:innen heute und auch schon Ende der 1980er Jahre in Deutschland gefordert, weil ihre Sorgen und Ängste um ihre Sicherheit ignoriert wurden. Die strukturelle Beziehung zwischen institutionellem Rassismus und rechter Gewalt zeigt, dass wir nicht über ein abstraktes Problem sprechen: Rassismusbetroffene Menschen machen sich Sorgen um ihr Leben und ihr Recht auf ein würdevolles Leben.

„Hanau ist überall: Von Hanau bis Moria, von Minneapolis bis Neukölln, von Dessau bis Afghanistan“

Nur wenige Tage nach dem Attentat in Hanau fand der 11. Integrationsgipfel in Berlin statt. Eine Gruppe von Aktivist:innen begab sich dorthin, um eine Trauer- und Protestveranstaltung unangemeldet durchzuführen. Auf ihren Transparenten war zu lesen „Hanau ist überall“ und „Hanau – das war deutsche Leitkultur“. Mit dem Anschlag in Hanau veränderte sich die politische Landschaft der antirassistischen Sozialen Bewegungen und der migrantischen Selbstorganisationen in Deutschland. Bis zum Terrorakt in Hanau war Migrationspolitik in zwei politische Felder geteilt, in ein innen- und außenpolitisches Feld, in eine auf das Grenzregime orientierte Flucht- und eine auf die Innenpolitik hin reduzierte Integrationspolitik. Aus der Perspektive der Sozialen Bewegungen und mit der Stoßrichtung eines gesellschaftlichen Antifaschismus sind wir bezüglich dieser „institutionellen Scheintrennung“ mit einem politischen Kurswechsel konfrontiert. Zum einen steht fortan die Frage nach Sicherheit, Teilhabe, Gerechtigkeit als eine lokal und auch global zu beantwortende Richtungspolitik im Fokus der antirassistischen Kämpfe. Zum anderen wurde die Kritik an der bundesdeutschen Integrationspolitik, wie sie innenpolitisch bisher mangelhaft gegenüber Rassismus und der Einhaltung von Menschenrechten auftrat, dafür aber Migrant:innen als defizitäre Individuen behandelte, in den Fokus der Debatten über die Aufklärung von Hanau in den Fokus gerückt.

Graffiti mit dem Text "From Hamburg to Minneapolis - #BLM Fight Racism"
Aufruf zu einer Black Lives Matter Demonstration in Hamburg, 2020.

Es musste fortan über strukturellen Rassismus, und zwar von Moria bis Hanau geredet werden! Bis heute besteht seitdem mit der Gründung neuer Initiativen, Bündnisse, Gruppen, Allianzen und Forderungen eine sichtbare und laute Protestbewegung gegen institutionellen, strukturellen und Alltagsrassismus. Ihre Kraft entwickelte sich gleichermaßen aus der erlebten Zäsur nach Hanau und aus der Erfahrung der Kontinuität des Rassismus. Die zuvor durch Ignoranz und Desinteresse erlebte Hilflosigkeit und Durchsetzungsunfähigkeit in der antirassistischen Bewegung sollte so nicht mehr weitergehen. Somit kam das Attentat zwar nicht aus dem Nichts, dennoch traf es alle unvorbereitet und machte vor allem deutlich, dass die Unsicherheit für Rassismusbetroffene darin besteht, dass es physische und strukturelle Gewalt gibt, denen sie ausgesetzt sind.



„Warum wurden unsere Kinder von dem Rassisten ermordet?“ ist die Frage, die sich die Angehörigen in Hanau stellen. Sie berichten in den öffentlichen Auftritten auch davon, dass ihre ermordeten Kinder, Geschwister und Freund:innen nicht erst seit dem 19. Februar 2020 Rassismus erfahren haben, sondern schon als Schüler:innen in der Schule, oder in der Behörde, im Alltag in der Nachbarschaft, bei der Verkehrskontrolle, in der Ausländerbehörde, auf dem Wohnungsmarkt und auf dem Arbeitsplatz oder bei den Wahlen, an denen sie nicht teilnehmen konnten, weil sie nicht den deutschen Pass hatten. Deshalb ist Hanau überall. Wir müssen für die Verteidigung der offenen und solidarischen Gesellschaft für alle über strukturellen Rassismus sprechen, um Sicherheit und Sorge für alle denken und politisch herstellen zu können. Gehen wir den Weg der Sicherheit für alle muss sich diese Frage unweigerlich lokal und global stellen, denn die Abschottungspolitik vor Migration verläuft auf mehreren Ebenen, an den EU-Außengrenzen, entlang der postkolonialen Nord-Süd-Verhältnisse und in den Städten dieses Landes.

„Antirassistische Kämpfe verbinden“ – Neue Konjunktur der antirassistischen Bewegung

Die Stärke der politischen und diskursiven Schlagkraft der neuen Konjunktur der antirassistischen Bewegung seit Hanau besteht außerdem darin, dass die Aktivist:innen Kontinuitäten rassistischer Ausschlüsse, Marginalisierungen, Entrechtungen, Diskriminierungen, Segregationen und Ausbeutungen deutlich gemacht haben und mit weiteren Sozialen Bewegungen neue Netzwerke herstellen konnten, um als breite Zivilgesellschaft Partizipation, soziale Gerechtigkeit und globale Verantwortung jenseits des Nationalpasses einzufordern: „Antirassistische Kämpfe verbinden und niemanden zurücklassen“ – das ist das Motto seit zwei Jahren. Es ist bis heute die herausfordernde Stoßrichtung einer politischen Selbstermächtigungsphase einer neuen Generation migrantisierter, rassismusbetroffener und antirassistischer junger Erwachsener. Unter diesem Motto verbindet die Zivilgesellschaft auch Strategien für einen breiten und gesamtgesellschaftlich anschlussfähigen Protest. Es wurde sichtbar gemacht, was jahrelang ignoriert wurde. Der Täter von Hanau hätte verhindert werden können, der Täter/die Täter von Oury Jalloh hätten verhindert werden können, tausende von toten namenlosen Geflüchteten hätten verhindert werden können. Die Stigmatisierung von migrantischen Alltagsorten und die Kriminalisierung von migrantisierten und rassismusbetroffenen jungen Erwachsenen muss beendet werden.

Transparent mit der Aufschrift "Koloniale Kontinuitäten brechen - Gegen Rassismus und Ausbeutung"
Demonstration "Ihr seid keine Sicherheit" in Berlin gegen Polizeigewalt und Rassismus in den Polizeistrukturen am 8. Mai 2021

Inmitten der Pandemie kamen weitere Themenfelder und politische Inhalte hinzu. Die Pandemie war einerseits durch den monatelangen Lockdown erschwerend für die Kämpfe, andererseits machte sie deutlich, wer in einer Gesundheitskrise mit knappen Ressourcen dazu gehört und wer nicht und wer als Sündenbock für die Pandemie schnell herhalten musste. Erinnert sei an die Quarantäne von Geflüchteten in überfüllten und notdürftig versorgten, menschenunwürdigen Massenunterbringungen und Lagern. Nicht nur in Moria, sondern auch in Deutschland. Arbeitsmigrant:innen in der Landwirtschaft und in Schlachterei- und Fleischverarbeitungsbetrieben wurden weiterhin systematisch ausgebeutet, während sie ohne umfassende Sicherheitsvorkehrungen und gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung ihrem Schicksal überlassen und zurückgelassen wurden. Während die Grenzen für hilfesuchende Geflüchtete in humanitären Krisensituationen zugemacht wurden, erlaubte man hingegen Arbeitsmigrant:innen zu kommen, damit die Spargel- und Erdbeerenernte nicht ausfiele und prekarisierte Arbeitskräfte nicht fehlten. Heute wissen wir zum Zusammenhang zwischen der Pandemie und Rassismus noch viel mehr. Neueste Untersuchungen zeigen, dass in der COVID-19-Pandemie „ausländische Staatsangehörige“ sehr viel häufiger gestorben sind als deutsche Staatsangehörige.  Was hat struktureller Rassismus hiermit zu tun? Genauere Angaben können internationale Erhebungen mit validen Daten zum Zusammenhang von sozio-ökonomischer Lage und Rassismusbetroffenheit machen.

Wessen Leben ist sicher und hat Zugang zu Daseinsvorsorge, um der Prekarität und Unsicherheit zu entfliehen, in die die Gesellschaft einmal mehr in der Gesundheitskrise gerutscht ist?

Die offene Migrationsgesellschaft verteidigen

Seit dem Terroranschlag in Hanau sind wir inmitten einer Legitimationskrise der rassistischen gesellschaftlichen Ordnung, die geprägt ist von Rechtsterrorismus, strukturellem und institutionellem Rassismus, Entrechtung, Marginalisierung und Massensterben von Geflüchteten im Mittelmeer.3 Diese Legitimierungskrise hat schon 2015 mit der Willkommensbewegung begonnen. Geflüchtete sterben an den Grenzen wie die Hanauer:innen, weil die Gesellschaft ihnen keine Sicherheit bieten wollte, da sie das falsche Aussehen und den falschen Pass haben, am falschen Ort auf der Welt geboren sind. Deshalb ist es an der Zeit, die Demokratisierung der Demokratie in der Migrationsgesellschaft mit tatkräftigen Schritten anzugehen und die offene und solidarische Gesellschaft immer ausgehend von den Kämpfen von Migrant:innen und der Solidarität zu denken.

Seit dem 19. Februar 2020 streiten die Betroffenen in Hanau und antirassistische Bewegungen dafür, dass nachhaltige Demokratisierungsprogramme entwickelt und langfristig gefördert werden, dass sich Gesetze ändern, über Rassismus und Antirassismus gesprochen und institutioneller Rassismus dokumentiert wird, dass Chancengleichheit durch Antidiskriminierungsarbeit hergestellt und Migrationspolitik auf dem Fundament der Menschenrechte entwickelt wird. Die Zeit der Entscheidung ist gekommen und wir müssen die Frage stellen, wie wir die solidarische und offene Gesellschaft verteidigen und aufbauen können. Diese nachhaltige antirassistische Transformation der Gesellschaft kann in Anlehnung an die Gruppe Adefra nur dann generiert werden, wenn sie jenseits der allmählichen Institutionalisierung des Antirassismus, die wir derzeit auch erleben, „in einer intersektional-solidarischen Bewegungsinfrastruktur verankert“ ist, wo Wissensproduktion gemeinsam geschaffen und sie auch in diese zurückgeführt wird, um Empowerment und antirassistische politische Transformation zu stärken und politische Handlungsfähigkeit vorzubereiten.

Um Sicherheit, Gleichberechtigung, Partizipation und Gerechtigkeit für alle zu verwirklichen, ist es notwendig, gesamtgesellschaftlichen strukturellen Rassismus zu analysieren, zu benennen und zu bekämpfen. Deutschland ist und wird eine Migrationsgesellschaft mehr und mehr. Dies ist die Bedingung für das Zusammenleben aller. Diese Bedingung muss sich auch gesetzlich niederschlagen in der Sicherstellung von gleichen Rechten für alle und Demokratisierungsprojekten für eine offene Gesellschaft. Die Bekämpfung rechter Netzwerke und eine menschenrechtsorientierte Migrationspolitik stehen hier ebenso im Zentrum wie die gleiche Verteilung demokratischer und sozialer Rechte auf Wahlen, Sicherheit, Wohnen, Gesundheit, Demokratiearbeit, Antidiskriminierung, globale Bewegung und Arbeitsschutzrechte.

Die Täter von Halle und Hanau haben deutlich gemacht, dass es ihnen um die Verhinderung der offenen Gesellschaft geht. Wir sollten uns entscheiden, ob Hanau zur Zäsur wird und wir die demokratische Bewährungsprobe einer solidarischen Gesellschaft der Vielen bestehen und strukturellen Rassismus bekämpfen!

 

Demonstration gegen Rassismus und Polizeigewalt in Berlin, zu sehen ist eine Menschenmenge sowie ein Demoschild mit der Aufschrift "No one's free when some are oppressed"
Demonstration gegen Rassismus und Polizeigewalt am 18. Juli 2020 in Berlin

Literatur

1) Vgl. W.E.B. Du Bois 2020: The Souls of Black Folk (1903). Indepentently Published, S. 96ff. Ich folge hier der Interpretation der britischen Soziolog:innen und Rassismusforscher:innen, Les Back und Maggie Tate, die Du Bois' Analyse des Todes seines Sohnes als eine Auseinandersetzung mit Rassismus und der nicht-Betrauerbarkeit von Leben interpretieren. Es heißt bei ihnen: »›On the passing of the First Born‹ reflects on the funeral of his son. In this passage we not only see the ›sociological big picture‹ but also the searing criticism of the hatred of the pale-faced onlookers who view the death of a black infant less deathly while their racism makes the mourners less than human. […] The passage communicates the raw violence of racism and the living death of black folk as more than a ledger of dispassionately compiled statistics«. Back/Tate 2015: For a Sociological Reconstruction: W.E.B. Du Bois, Stuart Hall and Segregated Sociology. In: Sociological Research Online, 20 (3), 15. DOI: 10.5153/sro.3773.

2) Bengü Kocatürk-Schuster/Ceren Türkmen (2021): „Die Geschichte rassistischer Gewalt zwischen strukturellem Rassismus, politischer Trauer und Kämpen um Büger*innenrechte“, in: Kluhs/Rodono/Saavedra-Lara/Tanc (Hg.): Woraus wir uns beziehen können. Köln: StrzeleckiBooks. S. 50-62.

3) Vgl. im Dialog mit Nancy Fraser zur Legitimationskrise des Rassismus in den USA: Michael C. Dawson (2016): Hidden in Plain Sight: A Note on Legitimation Crises and the Racial Order

Michael C. Dawson, Critical Historical Studies 2016 3:1, 143-161.